Ich starre auf den Bildschirm, und während sich der gestrige Tag wie ein Kinofilm vor meinem geistigen Auge abspielt, fühle ich mich emotional, ruhig, zufrieden, und wahnsinnig dankbar. Jetzt weiss ich wieder was (mir) im Leben wichtig ist…
Mein Wecker war gestellt – auf vier Uhr morgens – aber ich erwachte um 3:54 Uhr, und stand auf. Alles lag bereit – ich duschte, zog meinen neuen Anzug an, schminkte mich schnell, nahm meinen Mann in den Arm, küsste ihn, und sagte ihm, dass ich ihn liebe. Dann fuhr ich zum Flughafen. Mein Flug ging um 6:25 Uhr. Edinburgh nach Southampton. Ich würde auf der ersten ‚Simon Says‘ Kindertrauerkonferenz sprechen und zwei Workshops geben. Ich saß im Flugzeug, Sitz 12A, und wartete darauf, dass es losging. Schnell schickte ich noch eine WhatsApp Nachricht an meinen Mann um ihm zu sagen, dass ich ihn liebe – nur vorsichtshalber – denn spätestens seit Martins plötzlichen Tod, aber wahrscheinlich schon lange vorher, ist mir jeder Abschied äusserst wichtig. Eine letzte Umarmung. Ein letzter Kuss. Ein letztes „Ich liebe Dich“; ein kleiner versteckter Zettel, eine kurze SMS. Denn ich weiß wie es sich anfühlt wenn jemand das Haus verlässt, und nie wiederkommt.
Hier sitze ich also, neben mir ein Typ mit einem Laptop auf dem Schoß, stelle mein Handy in den Flugzeugmodus und spiele Candy Crush und Diamond Digger bis mir die Leben ausgehen. Dann lehne ich mich zurück, schliesse die Augen, und denke über meinen heutigen Vortrag nach. Was ich sagen werde. Wie ich es sagen werde. Wie es sich anfühlen wird. Ich bin nervös, aber ich weiss, dass ich es gut machen werde. Mein erster Vortrag, den ich komplett ohne Skript vortragen werde – habe nur Bilder als visuelle Gedankenstützen vor mir. Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder aufmache, ist es hell draußen, und ich blinzele in einen wunderschönen Sonnenaufgang. Ich lächle, und versuche ein paar Fotos zu machen. „Wieso kann man bloß die Schönheit der Natur nie so richtig auf einem Foto festhalten?“ frage ich mich, und gebe auf. Stattdessen bewundere ich die atemberaubenden, hoffnungsvollen rosa Wölkchen, und versuche sie einfach mit meiner Seele aufzuzeichnen.
Wir landen, steigen aus, ich werde abgeholt und zur Konferenz gefahren. Wir unterhalten uns nett, dann sind wir da. Ich wechsle in den ‚Berufsmodus‘. Ich bin aufgeregt. Freue mich. Bin nervös. Gebannt höre ich Ellie Bakers Vortrag zu. Sie erklärt genetisch-bedingte Stress-Reaktionen des Gehirns indem sie ein paar Punkte auf ihre Finger malt, ihren Daumen dann in ihre Handfläche drückt, und somit die unmittelbare räumliche Nähe des Mandelkerns zu dem präfrontalen Cortex visualisiert. Plötzlich verstehe ich viele meiner seltsamen emotionalen Reaktionen… Die Überreaktionen. Die Panikattacken. Diese supernervigen Katastrophengedanken, die sich dauernd und nahezu unaufhaltsam versuchen in mein Gehirn zu bohren.
Ein schneller Kaffee, kurz mit Colette von ‚WAY Widowed and Young‘ (‚Verwitwet und Jung‘) geschwatzt, dann bin ich dran. Ich bin nervös. Aber ich bin bereit. Ich rede. Alle hören wie gebannt zu. Ich mache Augenkontakt. Ein paar Menschen nicken. Einige weinen lautlos. Es herrscht totale Stille. Ich fühle wie meine Leidenschaft für dieses schwierige Thema in Form von drohenden Tränen in mir aufsteigt; ich schlucke sie runter, und rede weiter. Dann bin ich fertig, und plötzlich fühlt sich der Raum wie ein Ameisenhaufen an. So viele Leute. So viel zu tun. Schnell Mittagessen, dann gehts weiter. Workshops vorbereiten. Menschen nehmen mich in den Arm und sagen mir wie inspirierend mein Vortrag war. Wie sehr er ihnen geholfen hat. Ich bin zutiefst berührt, und schlucke die nächsten Tränen herunter. Dann machen wir Fimo-Vulkane und Origami-Knaller. Ein Raum voller kreativer Geschäftigkeit und Lachen. Es fühlt sich toll an. Menschen stellen mir Fragen. Die Zeit rast. Dann ist der Tag vorbei. Noch ein paar kurze Gespräche mit ein paar anderen netten Leuten; dann packe ich meine Sachen, und mache mich auf den Weg Richtung Flughafen. Noch schnell was mit einer Bekannten essen, dann bin ich in der Abflughalle am Southamptoner Flughafen. Wieso habe ich bloß keine Ersatzschuhe eingepackt?! Meine Füße schmerzen höllisch. Geduldig warte ich auf meinen 20:45 Uhr Rückflug. Ausgang 7. Meine Glückszahl. Na logisch. Ich grinse. Ticketkontrolle, Ausweis, Flugzeug. Sitz 9D. Ich laufe durch den Flugzeuggang, gucke mir dabei abwesend links und rechts die Leute an, die schon auf ihren Plätzen sitzen. Zwei links, dann Gang, zwei rechts. Komme bei Reihe 9 an – „Entschuldigen Sie bitte“, und die Person in 9C steht auf und lässt mich rein. Den kenn ich doch? War das nicht derselbe Typ von heute morgen? Ich lasse mich erschöpft auf den Sitz fallen, und er sagt: „Na, das war ein langer Tag, was?“, und in dem Moment bin ich mir sicher, dass es derselbe Typ von heute morgen ist. Was für ein seltsamer Zufall. Wir unterhalten uns. Er ist ein unheimlich interessanter und lustiger Mensch, und ich geniesse unser Gespräch. Dann hebt das Flugzeug – mit viel Krach – ab, und wir bemerken im Nebensatz, wie laut diese Dinger doch sind. Wir reden weiter, und alles ist ruhig. Ich freue mich bald wieder zu Hause zu sein. Auf einmal höre ich ein lautes ‚Pop!‘ von rechts draußen, und plötzlich klingt das Flugzeug nicht mehr wie ‚lautes Propellerflugzeug‘, sondern wie ‚leicht kaputte Waschmaschine im Schleudergang‘, und sackt ruckartig nach unten links ab. Dann fängt es sich wieder. Ich schaue mich um, aber alle scheinen ruhig. Aber ich bin mir sicher, dass irgendwas nicht stimmt. Ich gucke auf das Triebwerk, und könnte schwören, dass sich die Rotorblätter nur noch im halben Tempo drehen. Irgendwas geht hier gerade schief… Aber da das Flugzeug noch fliegt, versuche ich nicht darüber nachzudenken, und unterhalte mich weiter mit meinem Sitznachbarn. Das unruhige Gefühl bleibt allerdings. Kurze Zeit später höre ich das ‚Bing Bong‘ der Lautsprecheranlage: „Hier spricht ihr Kapitän. Wie Sie ja sicherlich schon bemerkt haben, haben wir Probleme mit einem unserer Triebwerke. Es ist unserer Meinung nach zu gefährlich bis nach Edinburgh weiterzufliegen, und wir werden in ca. 10 Minuten in Manchester notlanden.“ Ich schaue mich um. Alarmierte Gesichter. Mein Sitznachbar sagt scherzhaft ‚Flieg man weiter! Ich unterschreib ’nen Haftungsausschluss!‘ Eine Frau auf der anderen Seite des Ganges kaut auf ihren Fingern. Mein Magen dreht sich. Die Propeller auch. Das Flugzeug fliegt weiter. Es scheint ewig zu dauern, aber mit einem plötzlichen lauten Rumpeln wird das Fahrgestell herausgefahren. Räder. Propeller. Flughafen… Langsam sinken wir. Hinter mir hat schon jemand ihr Handy angemacht und erklärt gerade wem anders, dass sie nicht rechtzeitig zu Hause sein wird. Hätte das nicht noch warten können bis wir unten sind?!… Vor meinem inneren Auge sehe ich die todgeweihten Passagiere, die in den entführten Maschinen der Terrorattacken vom 11. September sitzen. Wie sie verzweifelt versuchen ihre Familien und Freunde anzurufen. Eine letzte Nachricht auf Band sprechen. Ein letztes „Ich liebe dich“… Ich versuche nicht weiter darüber nachzudenken. Der Boden kommt näher und näher, und mit jedem Meter den wir sinken fühlt sich das Flugzeug unstabiler an. Mein mittlerweile leicht grün angelaufener Sitznachbar meint, dass es vielleicht doch keine so ganz schlechte Idee gewesen sei in Manchester notzulanden, und dann sind wir auch schon unten. Erleichterung. Wir rasen an einem Meer aus Blaulicht vorbei. Feuerwehrautos. Krankenwagen. Werden langsamer, und langsamer, und schließlich stehen wir still. Aber wir müssen sitzen bleiben. Feuerwehrleute nähern sich und begutachten vorsichtig das rechte Triebwerk. Glauben die etwas, dass das Ding gleich explodieren könnte? Muss ja noch ’ne Menge Sprit intus haben, denke ich so leise vor mich hin, und versuche gleich darauf aufzuhören mir die schlimmsten Szenarien auszumalen. In meiner Fantasie löst sich der sich noch drehende Propeller, fliegt durchs Fenster und enthauptet den armen Passagier direkt vor mir. „Genug!“ sage ich leise zu mir selbst, und zerre mich und meine Gedanken entschlossen wieder in die Gegenwart zurück. Es scheint eine halbe Ewigkeit zu dauern, aber schließlich öffnet sich die vordere Flugzeugtür und ein paar Feuerwehrleute in voller Montur steigen ein. Ich frage grinsend, ob das die Stripper sind die wir bestellt haben. „Aber nicht der da“ sagt die Frau in 9B, und nickt in Richtung des etwas volleren Feuerwehrmann. Ich finde allerdings, dass er wie der schüchterne, liebevolle Typ aus dem britischen Film ‚Ganz oder Gar nicht‘ aussieht und könnte mir das schon vorstellen. Noch ein bisschen mehr hin und her, dann dürfen wir endlich aussteigen. Als ich die Tür erreiche rufe ich noch ein freundliches ‚Danke, dass Sie uns heile wieder nach unten gebracht haben‘ ins Cockpit, und dann warten wir. Erst wird uns gesagt, dass sie ein neues Flugzeug besorgen und uns noch heute nach Edinburgh zurück fliegen werden. Dann, dass sie zwei Reisebusse gebucht haben. Eine Frau macht sofort Rabatz. Sie wolle nicht mit dem Bus fahren. Ob die Option bestände morgen früh zu fliegen. Ehrlich gesagt habe ich auch keinen Bock jetzt noch fünf Stunden lang in einem Bus zu sitzen… Mittlerweile ist es schon nach 23 Uhr. Wir warten weiter. Keiner weiss so richtig was los ist. Schließlich wird uns gesagt, dass wir entweder im Hotel übernachten und morgen fliegen, oder mit den angekündigten Reisebussen jetzt gleich los könnten. Unsere Entscheidung. Einige Leute verlassen die Schlange um die Busse zu suchen. Andere bleiben stehen um sich in ein Hotel buchen zu lassen. Wir witzeln, dass die wahrscheinlich das Flugzeug bloß mit Klebeband und Kabelbindern zusammenhalten werden und wir dann wieder in genau die gleiche Maschine einsteigen werden. „Aber ich habe das Flugzeug mit einer halb-leeren Tüte Süßigkeiten markiert“ sagt der Typ der neben mir gesessen hatte, und wir müssen beide grinsen. Vielleicht werde ich schon leicht hysterisch, aber irgendwie finde ich im Moment alles total komisch. Aber wissen was jetzt wird würd ich trotzdem gerne. Nach ein paar weiteren Minuten wird uns schliesslich gesagt, dass sie uns jetzt doch noch heute nach Hause fliegen wollen. Wir laufen meilenweit durch die leeren Flughafenhallen, um genau da wieder anzukommen, wo wir vor weit über einer Stunde losgegangen sind. Ausgang 17. Ticketkontrolle. Ausweis. Dann stehen wir endlich wieder am Flugzeug. NICHT dem gleichen Flugzeug. Als ich durch den Gang laufe, habe ich totales Déjà Vu. Die gleichen Leute wie vor ein paar Stunden sitzen in den gleichen Sitzen. Irgendwie seltsam. Ich lasse mich auf meinen Platz fallen, und die Frau in 9B scherzt, dass die auch dieses Flugzeug bestimmt mit Klebeband zusammenhalten, und als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich TATSÄCHLICH Klebeband am Triebwerk! Jetzt echt?!… Wir heben – wieder – ab, und landen wenig später ohne weitere Zwischenfälle in Edinburgh. Ich schaffe es tatsächlich trotz Verspätung mein Auto aus dem Parkhaus zu holen, und komme schliesslich heile zu Hause an. Als ich um 3:36 Uhr in mein Bett falle, genau 23 Stunden und 42 Minuten nachdem ich mich aus ihm herausgepellt habe, umarmen mein Mann und ich uns und verbleiben so ganz lange. „Jag mir nicht noch mal so einen Schreck ein“, sagte er leise, und wir liegen Arm in Arm, und fühlen die Wellen der Dankbarkeit durch unsere Körper rollen. Am nächsten Morgen halten wir uns wieder eine ganze Weile in den Armen, und ich fühle mich ganz ruhig. Dankbar. Zentriert.
Ganz leise sage ich: „Stell dir mal kurz vor das Flugzeug wäre abgestürzt. Und ich wäre nicht nach Hause gekommen… Vielleicht verstehst du jetzt etwas besser, wieso mir jeder Abschied so wichtig ist. Weil ich genau weiss, wie es sich anfühlt wenn jemand aus dem Haus geht, und nie wieder kommt. Das verändert alles in dir…“
Und als sich der Tag an dem Martin zum letzten Mal unser Haus verlassen hat vor meinem inneren Auge abspielt, durchlebe ich noch mal jeden Moment, als wäre es gestern gewesen. Unser letzter Abschied. Unsere letzte Umarmung. Und plötzlich spüre ich was John fühlen würde wenn ich nie wieder nach Hause gekommen wäre. Die Leere. Die Verzweiflung. Die Fassungslosigkeit. Überall meine Sachen – jetzt nur noch eine schmerzhafte Erinnerung an meine immerwährende Abwesenheit. Die Blumen, die er mir erst am Tag zuvor geschenkt hatte, und wie froh er ist, dass er das getan hat. Wie er versucht die Worte zu finden um den Kindern zu erklären, dass Mama bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist und nie wieder nach Hause kommen wird… Und als mir eine Träne lautlos die Wange herunter kullert, noch immer sicher in den warmen Armen meines Mannes, halten wir uns gegenseitig fest. Versinken ineinander, und spüren das allertiefste Gefühl der Dankbarkeit.
Und plötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht panisch über all die Dinge nachdenke, die hätten passieren können, sondern dass ich einfach nur zutiefst dankbar bin für all die Dinge, die nicht passiert sind. Und auch wenn das für einige vielleicht so klingt als wäre es das Gleiche, weiss ich, was ich für eine wahnsinnig wichtige Denkweisenveränderung geschafft habe. Mir steigen Tränen in die Augen; mein Körper voller Emotion, voller Dankbarkeit, und ganz, ganz ruhig. Ich bin so unendlich dankbar für all das, was ich in den letzten ereignisreichen Jahren gelernt habe. Dass ich meine Wahrheiten laut ausspreche. Dass ich den Menschen die mir viel bedeuten sage wie wichtig sie mir sind. Dass ich nett zu meinen Mitmenschen bin und versuche für alle Verständnis zu haben. Dass ich jetzt immer auf mein Bauchgefühl höre. Und dass ich mutig genug bin, zu versuchen mein authentisches Leben zu leben.
Published on Nov 27, 2019